KURZGESCHICHTE | STILLE NACHT, HEKTISCHE NACHT
Vorgabe:
Roman und Sascha sind ziemlich im Stress, denn diesmal findet die Weihnachtsfeier bei ihnen statt, und sie sind noch lange nicht mit dem Dekorieren fertig. Der Christbaum muss aufgeputzt, der Keksteller bestückt und die Tafel gedeckt werden. Wir fragten uns, welche Stimmung bei den beiden herrscht. Hektik, Vorfreude, Gereiztheit? Ist es der Härtetest für ihre Beziehung oder bahnt sich ein romantisches Fest der Liebe an?
Also neidisch bin ich nicht. Echt nicht. Eine gewisse Schadenfreude macht sich in mir breit, als ich blinzelnd und noch unter der warmen kuscheligen Bettdecke liegend beobachte, wie Roman aus dem nebenan liegenden Badezimmer gestolpert kommt und nach einer schwunghaften Bewegung mit dem Badetuch blind nach seinen Klamotten greift, die noch vom gestrigen Abend auf dem Stuhl liegen. Umziehen will er sich später, wenn er alle restlichen Weihnachtsgeschenke und seine lieben Verwandten vom Flughafen abgeholt und hierher bugsiert hat. Das wird wohl erst am frühen Nachmittag so weit sein. Aber Zeit ist dann ja immer noch. Unseren Freunden haben wir gesagt, dass die Party erst um sieben beginnt und Romans Schwester Hannah, seine Eltern Maja und Johann, Tante Maike, Onkel Simon nebst Oma Helene und Opa Alfred, werden wir auch noch unterhalten bekommen, derweil wir das Essen vorbereiten. Konnte ja keiner ahnen, dass sich Hannah einen Tag vor Heilig Abend von ihrem langjährigen Verlobten Fynn trennt und sie tränenreich hier anruft, um uns zu fragen, ob wir sie nicht mitsamt der tattrigen Verwandtschaft über Weihnachten bei uns aufnehmen können. Denn eigentlich stecken wir noch mitten im Umzugsstress und unser gemeinsames Heim ist noch gar nicht wirklich hergerichtet, um eine solche Feier ausrichten zu können, geschweige denn, um Maja und Konsorten bei uns beherbergen zu können. Unsere Freunde sind da härter im Nehmen, keine Frage – doch was tut man nicht alles für das bitterlich weinende Schwesterlein, das für die Planung von derartigen Feierlichkeiten plötzlich so gar keinen Sinn mehr hat?
Für Roman muss natürlich wie immer alles möglichst perfekt sein. Also müssen auch noch die jetzt fehlenden Geschenke und der Mehrbedarf an Lebensmitteln her. Aus dem ursprünglichen Plan, gemeinsam das neue Haus zwischen Umzugskartons, Farbeimern und Tapeziertisch fertig zu schmücken und zu guter Letzt auch den künstlichen Weihnachtsbaum zusammen aufzustellen wird nichts. Hannah sei Dank. Gestern Nachmittag war ich darüber echt ziemlich sauer. Nach unserem kleinen Streit, dass er meiner Meinung nach Hannah immer den Arsch retten muss, habe ich wütend das Haus verlassen und bin scheinbar ziellos durch die Läden getingelt, bis dann doch das schlechte Gewissen an mir genagt hat. Im Grunde meinte Roman es nur gut. Er ist eben so. Und genau das mag ich ja eigentlich so sehr an ihm. Ich möchte es daher wieder gut machen. Besser als den Versöhnungssex in der letzten Nacht. Viel besser. Ich habe eine Idee, wie ich unser Weihnachtsfest in unserer ersten gemeinsamen Bleibe trotzdem ganz besonders für Roman gestalten werde: Ich werde ihn überraschen. So romantisch hat er noch nie Weihnachten gefeiert, da bin ich mir sicher. Dafür habe ich komplett neue Deko gekauft. Von dem alten Kram können wir uns nach sechs Jahren nämlich echt mal trennen. Zu viel davon ist von Mama und Papa geerbt und schon arg mottenzerfressen. Den gesamten neuen Schnick Schnack habe ich heimlich hinter seinem Rücken in den Keller verfrachtet, dorthin, wo auch die übrigen Sachen stehen.
Ich muss feixen, als mich die Vorfreude packt und betrachte dabei die kleinen Wassertropfen, die immer noch auf Romans breiten Schultern verweilen, bis sie schließlich mit einem Longshirt fort gewischt werden.
Ja, doch, ich habe definitiv das bessere Los gezogen. Ich werde es mir gemütlich machen, den Punsch zubereiten, alles in Ruhe herrichten und dabei mit voller Inbrunst amerikanische Weihnachtslieder schmettern. Während Roman bei knöchelhohem Schnee seinen Erledigungen nachgehen darf.
Er dreht sich zu mir um und sieht mich an. »Bist du noch sauer?«
Ich schüttele den Kopf. »Nein.«
Er lächelt mich warm an. »Und deswegen …« Sein Gesicht nähert sich dem meinen. Sachte zupft er mit den Zähnen an meiner Unterlippe. Ich nehme den feinen Geruch von frischer Minze wahr.
Ich lächle zurück. »… liebst du mich.« Rasch drücke ich ihm einen Kuss auf den Mund.
»Ja, du bist so herrlich unkompliziert.« Er hebt eine Hand und streicht mir behutsam das Haar aus der Stirn. Er duftet nicht nur nach Zahnpasta, sondern auch nach Aftershave und … Roman. »Ich wusste, dass du es verstehen würdest und nicht lange sauer sein wirst.«
Ich klimpere zur Bestätigung kokett mit den Augen.
Roman lacht und küsst mich nochmal. Dann wirft er einen Blick auf seine Armbanduhr und erhebt sich. »Ich bin am frühen Nachmittag wieder hier.«
Ich stütze mich auf meine Ellenbogen auf und sehe ihm zu wie er sich seine dicke Winterjacke über die Schultern wirft und mit großen Schritten zur Tür eilt. »Bleib nicht mehr so lange liegen. Unterschätze dein Los nicht. Ach und …« Er bleibt kurz stehen und dreht sich noch einmal zu mir herum. »Denk dran, dass die Klinke auf dem unteren Regalbrett neben der Kellertür liegt.«
»Ja, ich denke dran.«
»Gut. Lieb Dich.«
»Geht klar.«
Er zwinkert, gleich darauf ist er verschwunden und ich höre seine schnellen Schritte laut auf der Treppe zum Erdgeschoss.
Mit einem leisen Aufstöhnen lasse ich mich zurück in das warme Bett fallen und lausche dem Geräusch des sich öffnenden Garagentors und dem anspringenden Motor unseres Jeeps und nur wenige Momente später ist es wieder ganz still. Ich bin allein. Sturmfreie Bude. Ich grinse breit. Das Licht im Schlafzimmer ist dämmrig. Über Nacht hat es noch mehr geschneit; das haben sie gestern im Wetterbericht auch so angekündigt. Aber das bringt mich nur noch mehr in Festtagsstimmung. Umso gemütlicher wird es werden. Mit einem kleinen Freudenschrei schlage ich die Bettdecke zurück und bin umgehend auf den Beinen. Ungeschickt angele ich mit den Zehen nach meiner Boxershorts und streife sie mir über. Acht Minuten später stehe ich immer noch halbnackt und barfuß in der Küche und brühe mir einen Kaffee auf. Aus der Stereoanlage schallt mir ›Rudolph the rednosed Reindeer‹ entgegen und ich lasse meine Augen über all die Kisten gleiten, welche kreuz und quer neben leeren Farbeimern und zwei ausgeklappten Leitern in unserem großen Wohnzimmer verteilt stehen. Es riecht nach Farbe und Kleister. Das Chaos macht mich etwas ratlos, aber dann straffe ich die Schultern. »Das schaffst du, Sascha«, murmele ich zu mir selbst und nehme einen großen Schluck Kaffee. Dann drehe ich mich um und gehe mit meinem Becher in der Hand zur Kellertür. Wenn erst einmal das ganze Dekozeugs hier oben ist, sieht alles schon ganz anders aus, da bin ich mir sicher.
Die Feuerschutztür knarrt, als ich sie öffne, und gleich darauf schaue ich skeptisch die lange Holztreppe hinunter. Man kann nicht viel erkennen. Die Kellerfenster sind mit Sicherheit zugeschneit. Ein eisiger Windzug erfasst mich. Ganz schön kalt ist es da unten.
Ich seufze theatralisch, betrete die Treppe und laufe die Stufen bis ganz zu ihrem Ende, als mich erneut kalte Luft erfasst und ich entdecke, dass eines der Fenster tatsächlich auf Kipp steht. »Ah scheiße«, entweicht mir meine Überraschung über die Lippen, gleich darauf kommt mir ein anderer Gedanke und der ist weitaus alarmierender. Die Klinke! »Fuck!«, zische ich. Blitzschnell drehe ich mich um und haste die Stufen wieder hoch, der Kaffee schwappt über den Becherrand und verbrüht mir die nackten Knie, als ich in meinem Schmerz auch schon das Geräusch höre, welches ich jetzt mal so gar nicht brauche. Laut knallt die Tür über mir zu und ich stehe in beinahe vollkommener Dunkelheit da. Ich bewege mich kein Stück. Meine Augen sind riesig und mein Gesicht sieht mit Sicherheit furchtbar dämlich aus. Zum Glück sieht mich keiner, wie ich nur mit Unterwäsche bekleidet im Dunklen auf der Kellertreppe stehe, einen halbleeren Becher
dampfenden Kaffee in der Hand und die in der Finsternis liegende Kellertür über mir anstarre. Von oben dröhnt mir fast höhnisch ›Rocking around the Christmas Tree‹ entgegen und langsam, ganz langsam sinken meine Schultern nach unten. »Na super.« Sauer ist kein Ausdruck für das, was ich fühle. Ich verfluche mich für meine Dummheit, nicht an die Klinke gedacht zu haben, mit der sich die Tür vom Keller aus wieder öffnen lässt. Dabei hatte mich Roman extra noch einmal an diese Besonderheit erinnert.
Schnaufend steige ich die letzten Stufen hoch und boxe mit der Faust auf den Lichtschalter. Das warme Licht der Strahler an der niedrigen hölzernen Balkendecke ergießt sich über den Kellerraum. In der Mitte thront die Couchgarnitur aus meiner alten Wohnung mit all ihren kuscheligen Kissen. Regale stehen an den weiß gekalkten Wänden; achtlos hineingestopftes Zeug stapelt sich dort. In einer Ecke türmen sich noch mehr Tapetenrollen, die eingeschweißten neuen Teppiche und allerlei andere Dinge, welche wir in den Wochen nach Weihnachten noch brauchen werden, um unser Heim weiter bewohnbar zu machen. Es riecht neu aber auch nach muffiger Kellerluft und zwischendurch mischt sich der vertraute Duft meiner eigenen Sachen, die wir hier unten erst einmal für den Übergang deponiert haben. Ihr Geruch ist tröstend, wenn sie hier unten auch irgendwie deplatziert wirken.
Noch einmal schaue ich ungläubig zur Tür hinauf, dann ergebe ich mich ein Stück weit meinem Schicksal. Grübelnd gehe ich zur Couch und lasse mich auf die weichen Polster sinken. Mein grimmiger Blick trifft auf den vor mir stehenden Holzofen. Hilfe habe ich keine zu erwarten. Das kann ich vergessen und die Fenster sind viel zu klein, als dass ich hindurch passen würde. Nicht auszudenken, wenn ich stecken bleiben würde und um Hilfe rufen müsste. Der Anblick eines nackten Kerls, der in einem Kellerfenster mitten im Schnee feststeckt, würde unsere neue Nachbarschaft mit Sicherheit über Jahrzehnte hinweg erheitern. Das würde ich nicht verkraften. Echt nicht. Ich habe vor, hier noch länger zu wohnen und möchte nicht als exzentrischer Schwuler gelten, wenn Roman und ich dann irgendwann mal als Paar geoutet werden.
Wieder schnaufe ich verärgert. Ich kann daher also nur das Beste aus der Situation machen. Erst einmal schließe ich das Fenster und weiche zurück, als mir dabei pudriger Schnee auf die nackten Füße fällt. In eine Wolldecke gehüllt, wird mir langsam klar, dass ich mir was einfallen lassen muss, wenn ich hier nicht erfrieren möchte. Ich entdecke zu meiner Freude in einer Ecke ordentlich aufgeschichtete Holzscheite vom Vorbesitzer; auf dem Ofen selbst finde ich einen Grillanzünder und eine altersschwache Packung Streichhölzer. Und ich habe noch mehr Glück. Nach einigen vergeblichen Versuchen flammt der Grillanzünder im Ofen auf, erfasst munter das Holz und entwickelt sich rasch zu einem prasselnden Feuerchen. Ich werfe die Decke von meinen Schultern und reibe mir wärmend die Hände. Schon besser.
Hoffnungsvoll durchquere ich den Raum, öffne den Karton mit unserem Weihnachtsbaum und beginne diesen zusammenzustecken. Anschließend gehe ich zu den Tüten hinüber, welche ich gestern wohl weislich unter der Kellertreppe versteckt habe und fange an den Baum und anschließend den Raum zu schmücken. Wenn ich schon das Wohnzimmer nicht herrichten kann, kann ich es zumindest mit diesem Zimmer tun.
Nach zwei Stunden ist alles fertig. Eine angenehme Wärme hat sich ausgebreitet, der Raum hat sich verändert. Andächtig schalte ich das Licht aus und betrachte mit den Klängen von Bing Crosbys ›White Christmas‹ mein vollendetes Werk. Der orangerote Feuerschein flutet durch den Raum, Lichterketten mit kleinen gelben Birnchen verleihen ihm Gemütlichkeit und die Teelichte, die ich überall verteilt habe, tun ihr Übriges. Und neben dem Holzofen unser Tannenbaum, den ich mit den neuen schwarzen und silbernen Kugeln geschmückt habe. Dazwischen kleine rote Filzanhänger in Form von Schneeflocken. Es duftet herrlich nach Feuer und … Zuhause.
Ein Lächeln schleicht sich auf mein Gesicht. Ich bin ziemlich stolz auf mich, was ich aus meiner misslichen Lage gemacht habe und bin mit einem Mal davon überzeugt, dass sich Romans Verwandtschaft hier unten sicherlich viel wohler fühlen wird, als oben in unserem Umzugschaos. Um die Gästezimmer tut es mir natürlich leid – aber ich kann es nicht ändern. Ich werde das in Ordnung bringen, sobald Roman mein ›Sesam öffne Dich‹ spricht.
Müde sinke ich auf die Couch, rolle mich zusammen und schließe die Augen. Nun werde ich warten müssen.
Ich spüre, wie mir jemand durch das Haar streicht. Fragend schlage ich die Augen auf und sehe Roman mit einem Grinsen neben mir sitzen.
»Was hast Du denn gemacht?«, fragt er mich und seine Augen funkeln im Kerzenlicht wie helle Sterne.
Mir wird plötzlich kochend heiß zumute. Ich richte mich auf und runzle entschuldigend die Stirn. »Nun …«, beginne ich zögernd.
Kichernd hält er die Hand hoch. Und mit ihr die verräterische Klinke. »Ich weiß schon.«
Beschämt sinkt mein Kinn auf die Brust.
»Hey, ich finde es toll, was Du gemacht hast. Hier unten ist es viel gemütlicher als es oben hätte werden können in all der Unordnung.«
»Wirklich?«, frage ich skeptisch. »Es gefällt dir?«
»Ja«, flüstert er und schaut mich an. Dann beugt er zu mir hinüber und küsst mich lang und innig. Seine Kleidung riecht nach Schnee. Ich schiebe meine Hände unter seine Jacke, unter sein Shirt und streichle über die nackte warme Haut seines Rückens. Leidenschaft erfasst mich, doch dann halte ich inne und löse meine Lippen von den seinen. »Wo sind Maja, Johann und der tattrige Rest?«
Roman lacht leise. »Die wollten erst mal ins Hotel, sich frisch machen.«
»Sie übernachten nicht hier?«
»Nein. Hannah wollte uns nicht noch mehr Umstände machen.«
Die gute Hannah, ich nehme alles zurück.
»Jetzt wird erst mal was gegessen. Ich habe uns Kuchen gekauft.« Roman deutet auf den kleinen Couchtisch vor uns. »Mach du Kaffee, ja?«
Es ist ein Schokoladenkuchen. Die Packung verrät, wo er ihn gekauft hat. In meiner Lieblingskonditorei. Ich liebe ihn noch mehr für diese unerwartete Gestik. Erfreut stehe ich auf und eile nach oben, um uns Kaffee zu machen. Als ich kurze Zeit später wieder unten bin, trägt Roman nur noch seine Shorts und fläzt sich auf der Couch. Ein überaus heißer Anblick, an dem ich mich nicht sattsehen kann.
»Ich habe mich mal deinem feierlichem Outfit angeschlossen.« Lächelnd streckt er mir die Hand entgegen, in der er ein Stück des Kuchens hält und schiebt mir dieses in den Mund. Ich lutsche an seinen klebrigen Fingern, während die Schokolade sich auf meine Zunge legt.
»Sehr gut.« Ich krabble zu ihm auf die Polster und lasse mich auf ihn sinken. Samtig weich schmiegt sich seine Haut an meine Wange, als ich mein Gesicht auf seine Brust lege.
»Wir haben noch drei Stunden, Sascha«, flüstert er.
»Sehr gut«, wiederhole ich und küsse ihn. Gleich darauf grinse ich schelmisch. »Dann lass uns mal Wünsche erfüllen. Frohe Weihnachten.«
© Jayden V. Reeves; 12|2017